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Kinderschutz – unsere gemeinsame Verantwortung in Sendling–Westpark. Auch oder gerade in Zeiten von Corona.

Stephanie Ewald und Sigrid Stiemert-Strecker, Diplom-Psychologinnen, Caritas Beratungsstelle Sendling

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Selbst eine langjährige Kooperationsgemeinschaft wie die zwischen Ambulanter Erziehungshilfe (AEH), Sozialbürgerhaus (SBH) und unserer Erziehungsberatungsstelle (EB) blieb vom Virus im vergangen Jahr nicht unberührt. Der seit sechs Jahren in unserem Einzugsgebiet in Sendling-Westpark etablierte gemeinsame jährliche Fachtag der oben genannten Insitutionen fand im Jahr 2020 auf Grund der Pandemie nicht statt.

Seit dem Jahr 2014 wurden diese Fachtage ursprünglich einmal im Jahr von einer fest installierten interdisziplinären Kleingruppe vorbereitet. Diese bestand - vor dem einschneidenenden Jahr 2020 - aus jeweils einer Mitarbeiterin des SBH, einer Kollegin der EB und einer Fachkraft aus dem AEH Team madhouse. Das Jahr 2020 brachte einige Veränderungen mit sich – nicht nur durch Corona. Die Zusammensetzung der Vorbereitungsgruppe sollte neue gemischt werden. Die Kollegin aus dem AEH Team madhouse ging in Rente – die Verabschiedung erfolgte coronabedingt nur in sehr kleinem Rahmen. Die Kollegin aus dem SBH übernahm im Jahr 2021 einen anderen Schwerpunkt in ihrer Arbeit, wodurch der Bereich der Jugendhilfe nicht mehr in ihren Aufgabenbereich fiel.  Die verbleibende Kollegin aus der EB erhielt jedoch glücklicherweise neue Unterstützung: Diesmal sogar aus beiden AEH-Teams der Region (madhouse und kjf), aus denen sich eine Kollegin und ein Kollege für die Mitarbeit an der Vorbereitung der Fachtage bereit erklärten. Eine weitere Kollegin (TRL) von Seiten des SBH übernahm den Part ihrer SBH-Kollegin. Somit war die Gruppe wieder komplett und diesmal durch Vertreter:innen aller vier Institutionen besetzt.

Obwohl schon konkrete Überlegungen bestanden hatten, mit welchem Thema man sich beim nächsten Fachtag beschäftigen wollte - Sexuelle Gewalt an Kindern - , fiel der Fachtag 2020 dann coronabedingt leider aus.

Im Jahr 2021 stellten die Mitglieder der Vorbeitungsgruppe fest, dass ihnen allen sowie auch den Kolleg:innen der jeweiligen Insitutionen dieser Fachtag im vergangenen Jahr gefehlt hatte. Sie wollten alles daran setzen, einen solchen im Jahr 2021 wieder zu realisieren. Denn neben dem thematischen Input war jedes Mal auch der persönliche Austausch der Kolleg:innen untereinander von großer Bedeutung gewesen. Ein solches Treffen ermöglichte den Mitarbeiter:innen sowohl die jeweiligen Kolleg:innen der Kooperationspartner persönlich kennen zulernen, als auch sich neuen Kolleg:innen vorzustellen und bekannt zu machen. Ein Gesicht vor Augen zu haben - wenn man in einem Fall miteinander zu tun hat - erleichtert erfahrungsgemäß sehr die Kooperation und das fachliche Miteinander. So startete die Vorbereitungsgruppe ihre Planung zunächst (coronasicher) über Email-Kontakt. Der Fachtag nahm bei einem live Treffen schnell Gestalt an: Zum einen, was den Titel betraf, zum anderen die Überlegungen betreffend, diesen aufgrund der notwendigen Siicherheitsvorkehrungen bezogen auf die Pandemie in größeren Räumen stattfinden zu lassen. Rückblickend war die Gruppe in ihrem Wirken, was die Vorbereitung und die Organistaion betraf, unglaublich schnell und effektiv. Vielleicht lag es mit auch daran, dass der Wunsch, den persönlichen Austausch gerade in diesen besonderen Zeiten wieder zu realisieren, der Antrieb dahinter war.

Bis kurz vor dem Treffen im großen Saal des Kulturzentrums LUISE in der Ruppertstraße 5 im benachbarten Stadtteil Isarvorstadt herrschte dennoch eine allgemeine Verunsicherung auf allen Seiten der Teilnehmenden, ob dieses Kooperationstreffen der zentralen am Kinderschutz beteiligten Institutionen (AEH-Madhouse, AEH-KJF, SBH München SW und EB Caritas Sendling) in der aktuellen Lage der Pandemie nun legal, vertretbar und sicher genug sei. Dass es sinnvoll, wichtig und im Nachhinein gesehen eventuell auch unerlässlich sein würde, das hatten die Teilnehmer:innen allem Anschein nach dennoch geahnt, denn pünktlich um 9 Uhr saßen knapp 50 Mitarbeiter:innen auf Ihren Plätzen - mit ausreichend Abstand dazwischen. Jede Institution stellte sicher, dass seine Teilnehmer:innen geimpft, getestet und mit FFP-2-Maske erschienen. Während der Vorträge wurden die nötigen Abstände - angepasst an die Menge von Personen - in dem genügend großen Saal vorschriftsgemäß eingehalten. Bei 250 qm war das gut machbar. Der erfahrungsgemäß bei diesen Kooperationstreffen sehr bedeutsame Austausch der Kolleg:innen untereinander während der Pause fand trotz Kälte vorwiegend im Freien statt. So war es auch möglich, währenddessen einen Tee, einen Kaffee oder eine Brez´n zu sich zunehmen. Und im Nachhinein erwiesen sich diese Maßnahmen auch als wirksam: Keiner der Teilnehmenden hatte eine Coronainfektion nach dieser Veranstaltung!

Jeweils ein Vertreter, eine Vertreterin jeder Institution stellte in einem Vortrag das Procedere im Falle einer notwendigen Gefährdungseinschätzung vor. Insgesamt war hier die Rückmeldung der Teilnehmenden, wie wichtig und gut es sei, voneinander zu wissen, wie genau jede Institution im Gefährdungsfall vorgehe. So wurden auch die Unterschiede der Instrumentarien, wie z.B. hinsichtlich mancher Bezeichnungen deutlich, aber es überwog der Eindruck, dass alle Kolleg:innen egal welcher Institution versuchen, bestmöglich mit Ruhe, Sorgfalt, Besonnenheit und auch derselben Zielgerichtetheit ihre Aufgaben im Kinderschutz zu realisieren. Bereits bei den Nachfragen zu den Vorträgen war spürbar, dass bei den Teilnehmenden ein hoher Austauschbedarf bestand. Diesem konnte in den anschließenden, über die Institutionen hinweg gemischten vier Kleingruppen nachgegangen werden. Die Gruppen verteilten sich auf kleinere Säale, in denen unter Abstandseinhaltung und regelmäßigen Lüftungseinheiten weiterhin den Hygienemaßnahmen Rechnung getragen wurde.

Die Kleingruppen kamen zu ähnlichen beziehungsweise sich gut ergänzenden Erkenntnissen. Die folgenden Ergebnisse wurden im Anschluss an die Gruppenarbeit noch einmal für alle ins Plenum eingebracht:

  • Als ein sehr wichtiger Punkt wurde hier Transparenz benannt. Transparenz zum einen bezogen auf den Grad der Gefährdungseinschätzung: Die QS-Einwertung beim Jugendamt sollte für alle beteiligten Helfer:innen unbedingt bekannt sein. Zum anderen Transparenz bezogen auf den Kontext, innerhalb dessen eine Familie Hilfe erhält: Es müsse für alle Beteiligten klar sein, ob eine Hilfe freiwillig und von der betreffenden Familie erwünscht sei oder eine Hilfemaßnahme über einen Zwangskontext in die Familie eingeführt werde. Zu guter Letzt Transparenz gegenüber den beteiligten Familienmitgliedern: Hier sei es besonders wichtig, problematische und schwierige Inhalte klar und eindeutig zu benennen. Beispielsweise im Falle von sexuellem Missbrauch bedürfe es der Klarheit, dieses Thema deutlich den Klient:innen gegenüber zu benennen und zudem aufzuzeigen, welche Konsequenzen und notwendigen Hilfen sich daraus ergeben. An dieser Stelle sei auf den Fachtag 2019 hingewiesen. Damals tauschten sich SBH, AEH und EB zum Thema: „Systemorientierte Fallanalysen problematisch verlaufener Kinderschutzfälle“ aus. Ein zentrales Ergebnis der von der Diplompsycholgin Susanna Lillig durchgeführten und vorgestellten Studie war, dass in Fällen, die „ungut“ liefen, sich unter anderem die Fachkräfte gescheut hätten, Gefährdungsaspekte klar zu benennen - zum Teil aufgrund der Bedenken, dadurch die vertrauensvolle Beziehung zu den Klient:innen zu gefährden. Es bedarf dieser Transparenz vor allem aus dem Grund, dass nur so das Helfersystem im Sinne des Wohls der betroffenen Kinder fundiert und hilfreich agieren kann.
  • Weiterhin ist Verantwortlichkeit ein Punkt gewesen, der in den Kleingruppen zu belebter Diskussion anregte. Im Ergebnis wurde hier benannt, wie wichtig es sei, dass alle beteiligten Helfersysteme in der Verantwortung blieben. Beispielsweise behalte eine Fachkraft an einer EB - wenn sie eine Gefährdung an das SBH gemeldet habe -  weiterhin in ihrer Rolle die Verantwortung, auch wenn nun eine Fachkraft des SBH einen Teil der Verantwortung zusätzlich übernimmt. Die ursprünglichen Helfer:innen sollten zunächst weiterhin für die betroffenen Familien Ansprechpartner:innen bleiben, so das Resumé. An dieser Stelle seien klare Absprachen zwischen den Institutionen notwendig, wer welche Rolle beziehungsweise welche Aufgaben übernimmt.
  • Hierzu ist die Erkenntnis aus den Kleingruppen bedeutend, dass es Klarheit schaffe, wenn sowohl der Empfang von wichtigen Nachrichten, wie auch die besagte Aufgaben-beziehungsweise Rollenabsprache in schriftlicher Form stattfänden. Eine gegenseitige Information zum Stand der aktuellen Situation der Hilfemaßnahmen wäre hier zielführend: Wie akut ist die Situation? Wissen die Eltern über die Meldung Bescheid? Wer von den Helfer:innen ist noch erreichbar für die Eltern? Wer übernimmt was?
  • Bei der Entscheidung, welches nun die geeignete Hilfe für die Abwendung der Gefährdung des (Entwicklungs-)Wohls der Kinder sei, waren die Kleingruppen einstimmig der Ansicht, dass dies am besten in einem Übergabegespräch abgeklärt werden sollte, in dem die einzelnen Anliegen und Aspekte gut benannt und Rückfragen gestellt werden könnten.
  • Im Falle einer Hilfeplanerstellung (HP) zeichnete sich die Haltung ab, dass es wichtig sei, klare Ziele zu benennen. Ebenso klar müssten die Konsequenzen bei Nicht-Einhalten oder Nicht-Umsetzen der geforderten Verhaltensweisen umschrieben werden. An dieser Stelle wurde noch einmal deutlich, dass auch die EB als mögliche Hilfe im HP mitgedacht werden sollte und entsprechend einbezogen werden könnte.

 

Insgesamt wurde von allen Beteiligten betont, dass es ausreichend Zeit benötige, die verschiedenen Gefährdungseinschätzungen miteinander als beteiligte Institutionen auszutauschen. Besonderes Augenmerk sei hier auf die Klarheit der Formulierung zu legen. Dieses gemeinsame Bemühen um  Klarheit in Bezug auf den Fall bilde die Basis für die späteren Gespräche mit der Familie. Nachfragen bezüglich der Gefährdungseinwertung seien generell wichtig, willkommen und benötigten Zeit – so das Resumé aus den Kleingruppen. Damit werde ein nachvollziehbares Verstehen der Einschätzung sowie eine Verständigung untereinander, was mit unterschiedlichen Formulierungen gemeint sei, erreicht. Beim Austausch stellte sich heraus, dass die Nomenklatur in den Einwertungsinstrumenten zum Teil zwar unterschiedlich sei, aber bisweilen dasselbe meine – manchmal aber eben gerade auch nicht! Wenn unterschiedliche Einschätzungen vorlägen, sei dieser Austausch natürlich besonders wichtig.

Eine Kontinuität in der Zusammenarbeit wäre wünschenswert, so der Tenor aus der Gruppenarbeit. Ebenso mehr und ausreichende zeitliche Kapazität sowohl bei jeder Fachkraft unabhängig von den Institutionen, wie insbesondere auf Seiten der Erziehungsberatungsstelle, damit in Gefährdungsfällen auch wöchentlich Termine angeboten werden könnten. Eine ähnliche Anregung machte Prof. Dr. phil. Sabine Walper, indem sie in einem anderen Kontext bereits erwähnte, dass die Ausweitung der Kapazitäten an den Ebn eine sinnvolle und wünschenswerte Maßnahme wäre.

Allgemein wurde der Wunsch nach niedrigschwelligen Fallbesprechungen im Vorfeld der Überweisung einer Familie geäußert. Die Wertschätzung des früheren Regionalen Fachteams wurde hier noch einmal deutlich herausgestellt. In Fällen, in denen von Seiten des SBH sowohl eine AEH als auch parallel eine Erziehungsberatung als Hilfe in der Überlegung sei, wäre diese Form des erweiterten Fachteams als Start in die Kooperation durchaus denkbar und sinnvoll.

Insgesamt bestätigte sich während des gesamten Fachtages die gute, vertrauensvolle Kooperation zwischen EB, SBH und AEH.

In der Nachbesprechung ein paar Wochen später zeigte sich dann, dass sich aufgrund des Treffens der Mitarbeiter:innen im Rahmen des Fachtages bereits einige Dinge verändert hatten:

  • Die Teamassistentin der EB berichtete beispielsweise in einer Teambesprechung, dass ihr aufgefallen sei, dass von BSA-Kolleg:innen nun vermehrt Anfragen nach Fallübernahmen kämen und dass diese mit dem Wunsch einer vorherigen Rücksprache verbunden seien.
  • In der Reflexions-Besprechung der Vorbereitungsgruppe berichtete die Kollegin aus der AEH, dass ihr Team einen Leitfaden für die Fallübergabegespräche erarbeitet habe. Dieser enthalte beispielsweise  explizit Fragen zur Gefährdungseinschätzung und zum entsprechenden Prozess: Welche Risikofaktoren würden in der Familie gesehen und welche Mindestanforderungen seien an die Eltern zu stellen? Und wie offen und was sei mit den einzelnen Familienmitgliedern kommuniziert worden?
  • Weiterhin wurde deutlich, dass das Besprechen von bestimmten Fällen  - gerade auch denjenigen, die nicht so gut gelaufen seien - in den Kleingruppen sehr hilfreich gewesen sei. Deutlich seien die Kommunikationsprobleme geworden, die bei Zeitmangel und Druck entstünden, wenn ein Fall schnell übergeben werden solle. Als Ergebnis war allen einsichtig, dass gerade zu Beginn einer Kooperation ein  „Sich-Zeit-Nehmen“ sehr bedeutsam sei. Man benötige dies, um detailliert nachfragen zu können. Auf diese Weise könne man zunächst ein kollegiales Einverständnis erreichen, welches dann wiederum die Basis bilde, entsprechend transparent und klar mit den Eltern und Kindern die Arbeit beginnen zu können.

In den drei auf den Fachtag folgenden Monaten war folglich zu beobachten, dass die Kooperationsbereitschaft der drei am Fachtag beteiligten Institutionen SBH, AEH und EB einen Aufschwung erlebt hatte. Für alle Mitarbeitenden wuchs die gegenseitige Wertschätzung der qualitativ hochwertigen Arbeit im Kinderschutz in der Region durch das Kennenlernen der jeweiligen Instrumente zur Gefährdungseinschätzung. Dies in Kombination mit dem so raren persönlichen Austausch - in der aktuellen Situation auf Grund der besonderen Bedingungen durch die Pandemie - war ein kollegiales Geschenk, welches wir uns auf der Basis unserer Fachlichkeit gegenseitig gemacht haben. Danke dafür an alle!

 

Stephanie Ewald und Sigrid Stiemert-Strecker, Diplom-Psychologinnen

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