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Kindergruppen für Kinder mit psychisch krankem Elternteil

Theo Kornder, Dipl. Soz. Päd.(FH)

Neue Kindergruppe -  als Ergänzung der bewährten KipsE „ rausgschaut“ Angebots

In den letzten Jahren gehörten die Kindergruppen für Kinder mit psychisch krankem Elternteil zum festen Angebot der Ökumenischen Beratungsstelle in Neuperlach.
Das „ rausg‘schaut“-Konzept hat sich über diesen Zeitraum in der Praxis bewährt und wurde in einzelnen Sequenzen modifiziert und weiterentwickelt.
In der Grundausrichtung stützt sich das Gruppenkonzept auf die Prinzipien der Sozialen Gruppenarbeit. Auf dieser Grundlage gestaltet die Leitung einen gezielten Anregungsrahmen, der zum Ziel hat, dass die Kinder in einem geschützten Ort über das reden können, was sie bewegt. Daneben spielen, werken und kochen wir und genießen eine gemeinsame Zeit ohne Leistungsdruck.
In diese spielerische Atmosphäre hinein setzen wir die direkte Arbeit mit dem gruppenspezifischen Thema. Im Kinderbuch „Sonnige Traurigtage“ folgen wir der Protagonistin Mona in die verschiedenen Bereiche ihres Lebens.
Eine besondere Bedeutung haben dabei unsere Gruppenregeln. Jedes Kind kann zu den einzelnen Erfahrungen von Mona seine eigenen Erlebnisse erzählen, muss es aber nicht. In der Anfangsphase der Gruppe orientieren sich die Kinder noch stark an unserem Leitungsmodell. Durch unser regelgeleitetes Leitungsverhalten wird der Gruppenverlauf für die Kinder lesbar und berechenbar. Im weiteren Verlauf der Gruppenstunden wiederholen sich die bekannten Spielformen und bilden ein Gruppenritual. So können sich die Kinder auf einen sicheren Verlauf des Gruppenprozesses verlassen. Vertrauen wächst Stück für Stück sowohl in die Zuverlässigkeit der Personen als auch an den vertrauten Ort.
Für die Kinder ist es in der Regel eine völlig neue Erfahrung, dass die psychische Erkrankung der Eltern thematisiert wird. Sie haben in ihrem alltäglichen Umfeld keine Möglichkeit, ihr eigenes Erleben in den Geschichten anderer Kinder wiederzufinden. So bleiben sie in allem oft alleine, weil sie ihre Erlebnisse nicht teilen können.
Das „rausg‘schaut“-Angebot steht an der Seite anderer KipsE-Gruppenkonzepte, die dieser Isolation entgegenwirken wollen. Die positiven Effekte dieser Gruppenmaßnahmen sind nicht nur vielfach wissenschaftlich belegt, sie finden sich auch uneingeschränkt in den Rückmeldungen der Kinder und Eltern.
Nach wie vor bleiben der Erstkontakt und die Anbindung der betroffenen Familien an die Beratungsstelle die größte Herausforderung für uns Mitarbeiter. Dort, wo es schon gut gelingt, liegt der Verdienst vor allem in dem Engagement einzelner Kolleginnen von langjährigen regionalen Kooperationspartnern, in der Regel Erzieherinnen oder Schulsozialarbeiterinnen in Kindertageseinrichtungen. Über viele persönliche Kontakte und über einen längeren Zeitraum ist dort ein Vertrauen zu den Kolleginnen und zur Institution gewachsen. Wir hören von den Kolleginnen vor Ort, dass auch sie oft mehrere Anläufe brauchen, bis sie die Eltern direkt auf das Gruppenangebot ansprechen können. Zu sehr ist das Thema der psychischen Erkrankung noch schambesetzt und stigmatisiert.
Bei der Reflexion meiner Erfahrungen in den letzten Jahren, kennzeichnet ein typischer Widerspruch meine Auswertung.
Auf der einen Seite kennen wir die signifikanten Entwicklungsrisiken der Kinder psychisch kranker Eltern. Wir sind und wir fühlen uns in der Pflicht, alle Anstrengungen zu unternehmen, dass wir für sie Hilfe und Unterstützung in spezifischen Angeboten anbieten.
Auf der anderen Seite erleben wir die Eltern der Kinder oft zurückhaltend und zögerlich. Im Zuhören und Verstehen ihrer Position wird für mich die erlebte Zurückhaltung nachvollziehbarer. In der großen Mehrzahl meiner Gespräche erlebe ich Eltern, die sehr wohl die besondere Belastung ihrer psychischen Erkrankung auf die Entwicklung ihrer Kinder mit großer Sorge wahrgenommen haben. So wünschen sie sich am häufigsten, dass ihre Kinder von allem möglichst wenig davon mit- und abbekommen sollen. Mit unseren spielerischen Elementen, mit Werkangeboten und gemeinsamem Kochen als Teil des Gruppenangebotes können sie sich sofort identifizieren. Große Vorbehalte formulieren sie in Bezug auf die thematische Auseinandersetzung.
Da sich die Eltern ja in diesem ersten Kontakt nicht auf eine gewachsene Vertrauensbeziehung stützen können, erscheint ihre Skepsis naheliegend. Dies bezieht sich sowohl auf die inhaltliche Frage zu der angemessenen Form der kindgemäßen Aufklärung über die Erkrankung und deren Folgen, als auch auf die grundsätzliche Befürchtung, dass mögliche Konsequenzen gar nicht kalkulierbar wären.
Wenn das Kind beispielsweise den unbekümmerten Umgang mit Begrifflichkeiten im geschützten Gruppenrahmen dann auch in anderen nichtgeschützten Lebensbereichen anwendet, könnte das fatale Folgen nach sich ziehen.
Ja, in vielen offenen Fragen werden reale Befürchtungen benannt, die es ernst zu nehmen gilt. Sie alleine mit der Dringlichkeit aus der kindlichen Entwicklungsperspektive heraus zu beantworten, greift zu kurz.
Dieses Dilemma beflügelte uns, neben dem bewährten KipsE-„ rausg‘schaut“-Konzept ein modifiziertes Angebot zu entwickeln.
Kinder, die aktuell in besonders belasteten Situationen leben, sind unsere Zielgruppe. Damit sind eben auch die Kinder mit psychisch erkranktem Elternteil gemeint. Die Ausgestaltung der Gruppenangebote orientiert sich an den gewohnten Strukturen. Wir verzichten aber auf den Begriff „psychische Erkrankung“ und verwenden auch keine spezifische Literatur.
Dagegen thematisieren wir mit Hilfe von Büchern und Medien wichtige Erlebnisräume der Kinder.
Wie geht es mir zu Hause? Welche Gefühle sind für mich angenehm, welche unangenehm? Auf welche Freundinnen und Freunde kann ich mich verlassen, usw.? Was wünsche ich mir und erwarte ich von der Zukunft?
Für diese Form der Kindergruppenangebote gibt es keine Hürden zu überwinden. Der regelorientierte Charakter der Gruppenausrichtung signalisiert Sicherheit und Selbstbestimmung.
Die Eltern können über so ein niederschwelliges Angebot zunächst eine tragfähige Beziehung zu den handelnden Personen als auch zu dem Ort, zu unserer Beratungsstelle, aufbauen. Das Vertrauen kann so Schritt für Schritt wachsen. Keiner wird überfordert.
Dieser Zugang berücksichtigt die formulierten Bedenken psychisch kranker Eltern in Bezug auf die angemessene Aufklärung ihrer Kinder und befreit alle Beteiligten von einer schnellen Entweder-oder-Situation. Der Beziehungsaspekt bekommt zunächst den Vorrang vor dem Inhalt. Selbstverständlich bleibt dann eine mögliche Teilnahme an einer nachfolgenden „rausg‘schaut“-Kindergruppe ein wesentliches Ziel.
Neben den Eltern, die für ihre Entscheidung einfach mehr Zeit benötigen, bietet das neue Projekt auch eine Chance für die Kinder, deren Eltern selbst gar keine Krankheitseinsicht haben.
In einer Veröffentlichung von Professor Dr. Johannes Jungbauer, die er u.a. im Rahmen der BAG Bundeskonferenz vorgestellt hat, kommen junge Erwachsene, die in einer Familie mit psychisch krankem Elternteil aufgewachsen sind, selbst zu Wort.
Von ihnen erfahren wir, unter welchen Krankheitsfolgen sie als Kinder besonders gelitten haben.
Den größten Mangel erlebten sie in der Unberechenbarkeit der Eltern.
Überraschende Stimmungsumbrüche und die Unvorhersehbarkeit im Verhalten beschrieben sie als ihren größten Belastungsfaktor. Viele der Eltern hatten eine psychiatrische diagnostische Einstufung als Persönlichkeitsstörung, andere lehnten aber eine psychiatrische Anbindung und Versorgung kategorisch ab. Bei unseren Anmeldungen lernen wir immer wieder Familien kennen, bei denen Persönlichkeitsstörungen die Erziehungsfähigkeit der Eltern deutlich einschränken, mit erheblichen Folgebelastungen für die Kinder. In dem traditionellen KipsE-Format konnten wir von diesen Eltern keinen Arbeitsauftrag erwarten. So kamen diese Kinder nicht zum Zug, obwohl vielleicht gerade sie von einem Gruppenangebot am meisten profitiert hätten.
Jetzt, mit unserem neuen Gruppenangebot möchten wir auch diesen Familien ein gutes Gruppenangebot machen.


 Theo Kornder

 Dipl. Soz. Päd.(FH)
 

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