×

Archiv Lesenswert

<<< zurück zur Auswahl

„Feeling-Seen“ in der Eltern-Kind-Beratung – ein Konzept um Feinfühligkeit und Bindung in Familien zu fördern

Alice Spies, Dipl. Psychologin; Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche in der Kirchenstraße

>pdf


Die Methode „Feeling-Seen“ von Michael Bachg habe ich vor einigen Jahren im Rahmen einer Fortbildung kennengelernt. Ich habe damals auch schon in der Erziehungsberatung gearbeitet und war in Bezug auf den Verlauf von Elternberatungen wie auch gemeinsamen Eltern-Kind-Beratungen gelegentlich sehr frustriert, wenn ich das Gefühl hatte, dass eine hinter den vorgebrachten Schwierigkeiten liegende Problematik zwar spürbar jedoch nicht greifbar wurde, und es im gemeinsamen Beratungsverlauf trotz der Abhandlung verschiedenster Inhalte nicht zu befriedigenden Annäherungsschritten in der Interaktion zwischen Eltern und Kind kam.

Am Ende solcher Beratungen blieb bei mir das Gefühl, dass es im Alltag der Beteiligten weiterhin eine große Anstrengung und kognitive oder Willensleistung bleiben würde, sich immer wieder zusammenzuraufen und aufeinander zuzugehen. Ich fragte mich selbstkritisch, ob ich wirklich hilfreich gewesen war.

Für mich war es beim Kennenlernen der „Feeling-Seen-Methode“ sehr berührend mitzuerleben, wie sichtbar entlastend es für die Kinder war, wenn sie im Gesprächsverlauf mit dem Therapeuten herausarbeiten konnten, was ihnen wirklich fehlt und sie sich gleichzeitig dabei von ihren Eltern richtig gesehen und verstanden gefühlt haben. Die Eltern wirkten im Anschluss an den inneren Prozess, den sie bei ihrem Kind miterleben konnten, viel sicherer in dem Verständnis dafür, worunter ihr Kind leidet und was es braucht.

Die Methode “Feeling-Seen“

Die Methode „Feeling-Seen“ baut auf den von Albert Pesso entwickelten körper- und ressourcenorientierten Therapieansatz PBSP auf und wurde von Michael  Bachg für die Umsetzung im Eltern-Kind-Setting und der Elternberatung/(Kinder-)Therapie weiterentwickelt. Aktuelle entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus der Bindungs- und Mentalisierungstheorie werden darin umgesetzt.

Wie der Name es schon sagt, geht es bei dieser Methode darum, dass sich das Kind – wenn möglich in Anwesenheit seiner Eltern – innerhalb des therapeutischen Prozesses auf einer tieferen Ebene gesehen und emotional verstanden fühlt. Das therapeutische Ziel dabei ist es zum einen herauszufinden, was dem Kind jenseits der gezeigten Problematik eigentlich wirklich fehlt, d.h. welche basalen Entwicklungsbedürfnisse (wie z.B. das Bedürfnis nach Unterstützung, Schutz  oder Grenzen) des Kindes in nicht ausreichendem Maße befriedigt wurden oder wo es versucht Rollen und Aufgaben, die im familiären Bezugssystem nicht ausgefüllt sind, zur Erleichterung anderer, auszufüllen. Zum anderen geht es auch darum, dass die Eltern ihr Kind besser verstehen lernen und in die Lage versetzt werden, das eigene Interaktionsverhalten im Hinblick auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes angemessener zu gestalten.

Da die Voraussetzung für die Anwendung der weiter unten beschriebenen Art der Gesprächsführung mit dem Kind ist, dass das Kind grundsätzlich von seinem Entwicklungsstand her in der Lage ist zu mentalisieren, d.h. dass es erkennen kann,  dass das eigene Verhalten und das Verhalten anderer durch eine Intention (wie z.B. Gedanken, Gefühle, Wünsche, Überzeugungen) entsteht, kann die Methode Feeling-Seen im (Eltern-)Kind-Setting erst ab dem 5. Lebensjahr bzw. ab dem Grundschulalter angewendet werden.

Um zu vermeiden, dass nur „über“ und nicht „mit“ den Kindern gesprochen wird, werden die Kinder oder Jugendlichen frühzeitig,  wenn möglich gleich zum Erstgespräch, zusammen mit ihren Eltern oder einem Elternteil eingeladen. In dieser gemeinsamen Sitzung liegt der Fokus auf dem Erleben und der Bedarfslage des Kindes, während die Eltern in der Rolle des teilnehmenden Beobachters sind.

Da die Eltern in dieser ersten Sitzung mit ihren eigenen Bedürfnissen wenig Platz haben, findet die nachfolgende Sitzung ohne das Kind statt und dient der Nachbesprechung oder den Fragen der Eltern. Die weitere Beratung kann dann - je nach Bedarf - in Form von Elternteaching-, coaching oder auch mit erneutem Einbezug und Fokus auf das Erleben des Kindes im familientherapeutischen Setting fortgeführt werden. Darüber hinaus haben auch die Eltern die Möglichkeit selbst im Sinne von „Feeling-Seen“ therapeutisch an ihren eigenen Themen zu arbeiten.

„Feeling-Seen“ im Einzelsetting

Nicht immer ist es möglich, dass ein Familiensetting stattfinden kann. Da die Interventionen, die ich im „Feeling-Seen-Ansatz“ kennengelernt habe, sich in ihrer Anwendung aber nicht auf das Eltern-Kind-Setting beschränken,  biete ich die therapeutische Methodik daher auch im Einzelsetting an,  z.B. mit älteren Jugendlichen, die ohne ihre Eltern an ihren Themen arbeiten wollen. Oder im Einzelsetting mit den Eltern, wenn das Kind aus Altersgründen nicht einbezogen werden kann oder die Eltern spüren, dass ihr Blick auf ihr Kind durch eigene unverarbeitete Kindheitskonflikte beeinträchtigt ist.

Im Folgenden möchte ich zwei zentrale Interventionsmethoden des Feeling-Seen-Ansatzes vorstellen mit denen ich gute Erfahrungen gemacht habe: das „Microtracking“ und die Bildung von „Antidotes“.

Microtracking – ein Vorgehen zur Förderung mentalisierter Affektivität

Unter dem Begriff „mentalisierte Affektivität“ wird eine spezifische Form der Mentalisierung verstanden. Hierbei wird während der Wahrnehmung und der Aufrechterhaltung einer Emotion über diese Emotion reflektiert (über seine Herkunft und den Kontext, durch den es ausgelöst wurde und über Wünsche, Bedürfnisse und Intentionen des anderen Menschen). Mentalisierte Affektivität gilt als höchste Stufe der Affektregulation (Fonagy et al. 2004), durch sie kann es zu Einsichtserfahrungen kommen (Taubner 2008).

Die oben beschriebene Art der Affektregulierung wird im Feeling-Seen-Ansatz gezielt gefördert, und zwar für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern (Bachg et al., 2016 ). Neben der Bewusstwerdung der Gefühlslage und dem Verständnis für die Entstehung des jeweiligen Gefühlszustandes, geht es darum, die Beteiligten schrittweise zu befähigen für den Emotionsausdruck eine Form wählen zu können, die der Beziehung und der Situation gerecht wird und es dem Gegenüber ermöglicht, das Gefühl zu verstehen und darauf einzugehen.

Das Microtracking ist ein Verfahren mit dem „mentalisierte Affektivität“ gefördert wird. Es  wurde von Pesso zum Lesen und Bewusstmachen von „Mikroemotionen“, das sind Emotionen, die für einen kurzen Moment im Gesicht eines Erzählenden auftauchen, aber für den Erzählenden nicht zwangsläufig bewusstseinsfähig sind, entwickelt. Diese kurz auftauchenden Gefühlsspuren werden durch den Therapeuten benannt und in den (gerade berichteten) kontextuellen Zusammenhang gebracht. Das Kind überprüft nun seine innere Empfindung darauf, ob der vom Therapeuten gesehene und vorgeschlagene Gefühlszustand stimmig mit seinem Erleben ist oder nicht. Falls das Gefühl vom Therapeuten nicht treffend beschrieben wurde, wird die Gefühlsbeschreibung zusammen mit dem Kind bearbeitet, bis es mit dem erlebten Gefühl übereinstimmt. Bei treffender Übereinstimmung kann die Bewusstwerdung des Gefühlszustandes, dazu führen, dass weitere Erinnerungen, die assoziativ damit verbunden sind, ins Bewusstsein des Kindes treten. Auf diese Weise ist es schrittweise möglich eine Verbindung herzustellen zu bedeutsamen früheren Kontexten und prägenden Erfahrungen, die mit der gegenwärtigen Problematik und dem gegenwärtigen Verhalten in Zusammenhang stehen. Zusammenfassend kann man sagen, dass der Therapeut versucht in der Gesprächsführung ganz nah am affektiven Erleben des Kindes dran zu bleiben. Alle Fragen, die er an das Kind stellt zielen darauf ab, zu erfahren und dem Kind erfahrbar zu machen, wie es zu seinem Erleben kommt. Dieses Vorgehen hilft dem Kind dabei seine Gefühle bewusst sehen und verstehen zu lernen, anstatt sie einfach nur zu erleben. Für das Kind ist die Erfahrung in den eigenen Bedürfnissen gesehen und verstanden zu werden sehr entlastend und erhöht die Bereitschaft mitzuarbeiten, da es spüren kann, dass es hier um es selbst geht (Bachg, 2013).

Die Eltern können – ohne selbst im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen - den inneren Erkundungsprozess ihres Kindes miterleben und nachvollziehen, welche inneren Ziele hinter dem Verhalten des Kindes stehen.

Das Konzept des Antidotes (Gegengift) von Pesso (2008)

Wenn sich das Kind im Gesprächsverlauf an bedeutsame Szenen erinnert, in denen wichtige Entwicklungsbedürfnisse von den Bezugs- oder Betreuungspersonen nicht wahrgenommen oder in konträrer Weise beantwortet wurden, wird im Feeling-Seen für diese Szene zusammen mit dem Kind ein sogenanntes „Antidote“ (Gegengift) entwickelt. Bei der Entwicklung dieses imaginierten Gegenbildes, beschäftigt sich das Kind mit hypothetischen, idealen Figuren, die genauso gehandelt hätten, wie das Kind es in dem Moment für die Befriedigung seines Grundbedürfnisses gebraucht hätte. Diese phantasierte Figur wird genau beschrieben und im Beratungszimmer szenisch dargestellt, so dass in der Begegnung mit ihr eine interaktive Neuerfahrung möglich ist. Durch die szenische dargestellte Begegnung mit idealen Bezugspersonen erlebt das Kind positive Gefühle wie Erleichterung oder Glück. Ziel dieser Intervention ist es, negative Affekte zu reduzieren und neue Repräsentanzen therapeutisch zu entwickeln. Grundlage dieses Vorgehens ist die Erkenntnis, dass ein glaubwürdiges Bild einer Wirklichkeit ausreicht um neue Erfahrungen zu verankern (Bachg, 2013).

Für die Eltern wird im Verlauf des Prozesses häufig sehr gut nachvollziehbar und plausibel, wie ein Problemverhalten entstehen konnte und welche unbefriedigten Grundbedürfnisse des Kindes damit in Zusammenhang zu sehen sind. Durch das schrittweise Vertiefen des Verständnisses zum Problemverhalten wird es für die Eltern leichter mit ihrem Kind mitfühlen zu können. Häufig ist es am Ende der Sitzung eine erste gefühlvolle Annäherung zwischen Eltern und Kind wieder möglich.

Das innere Erleben von Eltern, Kindern und Jugendlichen besser zu verstehen und ihm in der Familie mehr Gehör zu verschaffen, ist sicherlich eine der zentralen Aufgaben von Erziehungsberatung. Die „Feeling-Seen“ –Methode ist aus meiner Erfahrung sehr hilfreich diesen Prozess in Gang zu setzen und Verständnis zwischen Eltern und ihren Kindern zu fördern.

 

Literaturangaben:

Bachg, M. (2013). Wo bleibt das Kind beim Elterncoaching? In M. Grabbe, J. Borke & C. Tsirigotis (Hrsg.), Autorität, Autonomie und Bindung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Bachg, M., Hille-Kluczewski, E., Grüter, S., (2016). Die Methode Feeling-Seen als familientherapeutischer Ansatz zur Förderung der Affektregulation und des Beziehungsverhaltens bei Kindern und Jugendlichen. Psychotherapie 21 (1), S. 147 - 177

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E.L., Target, M. (2004): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta.

Pesso, A. & Perquin , L. (2008). Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind. PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper- Emotions- und Familientherapie. München: CIP-Medien.

Taubner, S. (2008). Einsicht in Gewalt. Gießen: Psychosozial.

 

Nach oben